"Eher kann die Welt ohne die Sonne bestehen, als ohne die HL. Messe " (sinngemäß nach Pater Pio)
Durch die zentrale Lage der Stiftskirche in Neustadt erfreut sich die HL. Messe im außerordentlichen Ritus dort stetig einer großen Zahl von Neugierigen. Neulich fragte mich einer, der nach dem Sanctus erst hereinkam : "Sagen sie mal, betet denn der Priester die ganze Messe über still?" - Ich klärte ihn verständnisvoll auf und ließ ihn seines Weges ziehen. Danach wurde mir klar, welche Schätze die Messe im überlieferten Ritus birgt und wie wichtig und zentral die Stille im Herzen der Liturgie ist.Für die meisten Gläubigen, die nur Meßfeiern in der ordentlichen Form kennen, ist es äußerst gewöhnungsbedürftig, dass während des Hochgebets in der außerordentlichen Form der römischen Messe weitgehend Stille herrscht.
Die Allgemeine Einführung ins Römische Meßbuch von 1975 kennt zwar einen eigenen Abschnitt über "Die Stille", von der es dort heißt: "Je nach der Stelle innerhalb der Feier ist ihr Sinn verschieden. Sie gibt Gelegenheit zur Besinnung beim Schuldbekenntnis und nach den Gebetseinladungen, zur kurzen Meditation nach den Lesungen und nach der Homilie, zum inneren Lobgebet nach der Kommunion." (1) Vom Eucharistiegebet heißt es dagegen: "Die Bedeutung des eucharistischen Hochgebets verlangt, daß alle es in ehrfürchtigem Schweigen anhören und durch die vorgesehenen Akklamationen mit vollziehen."(2)
Damit war endgültig die Kanonstille(3) aufgegeben, nachdem sie mehr als ein Jahrtausend in Übung gestanden hatte.
Das allmähliche Aufkommen der Kanonstille in der Westkirche fällt, wie wir sehen werden, zeitlich mit dem Wegfall der schon früh bezeugten Altarvorhänge zusammen. Deshalb werfen wir zunächst einen Blick auf den Kirchenbau des 1. Jahrtausends und seine Ausstattung, bevor wir uns der Geschichte der Kanonstille und ihrer Begründungen zuwenden können. Doch davor rufen wir einige allgemeine Grundsätze in Erinnerung, die die Kirche stets beim Kirchenbau geleitet haben.
Es galt stets als völlig klar, dass das liturgische Geschehen sich im heiligen Raum der Kirche vollzieht. Sie ist zugleich Haus der Gemeinde, in dem man zur Feier der Eucharistie und zum Lob Gottes zusammenkommt, und Haus Gottes als Tempel der Christen. In der Nachfolge des Tempels zu Jerusalem sollten die Gläubigen in ihm "die Macht und die Herrlichkeit des Herrn" (Ps 62,3) schauen. Man knüpfte also bewusst an den Alten Bund an, in dessen Nachfolge man sich wusste.
Außerdem war man sich bewusst, dass die Apokalypse des Johannes
Maßstäbe und Kriterien dafür gibt, was Kirche ist und woher ein
Kirchenraum sein Maß nimmt. Angesichts der zerrütteten und sich ins
Chaos auflösenden Schöpfung stellt sich die Kirche als der rettende
Hafen dar, als der Ort, an dem sich der neue Äon, die Königsherrschaft
Gottes schon ankündigt und andeutet. Deshalb ist das Handeln im
Kirchenraum, die Liturgie, das treue und unmittelbare Abbild der
immerwährenden himmlischen Liturgie der Engel. In der Überleitung zum
Engelsgesang des Sanctus heißt es deshalb nicht, daß die Engel mit uns
Gott verherrlichen, sondern daß wir in ihren Gesang einstimmen dürfen.
In dieser engen Verbindung zur Liturgie sind in allen Jahrhunderten Kirchen gebaut worden als Räume, die diesem liturgischen Handeln entsprechen und die die Ordnung der Liturgie schon in der Struktur der Bauelemente sichtbar machen.
Aus der frühesten Zeit des Christentums sind keine Baudenkmäler liturgischer Räume zu finden. Eigene Kultbauten gab es zunächst nicht. Entsprechend dem Beispiel Jesu, der das Letzte Abendmahl mit seinen Aposteln im Obergemach (coenaculum) eines Wohnhauses gefeiert hatte, war in den ersten zwei Jahrhunderten und teilweise noch darüber hinaus der Versammlungsort der Christen zur Feier des Herrenmahles, der coena dominica, der Speisesaal eines reichen Gemeindemitglieds. In der Apostelgeschichte (20,7-12) wird ein solches coenaculum bei der Abschieds-Eucharistiefeier des Apostels Paulus in Troas erwähnt.
Schon bald ging man dazu über, in den Häusern feste Räume für die
Eucharistiefeier einzurichten. Paulus nennt mehrfach die Namen der
"mein und der ganzen Gemeinde Gastgeber" (Röm 16,23). In Rom waren es
die sogenannten tituli, aus denen später die Titelkirchen
hervorgingen.
Ein frühes Beispiel einer solchen Hauskirche (domus ecclesiae) findet sich in Dura-Europos am Euphrat, wo durch Abriß einer Zwischenmauer aus zwei Räumen ein größerer Saal (5 x 12,5 m) in Ost-Westrichtung gebildet wurde.
Man beging die Eucharistie also zunächst in kleinen Gruppen in den sogenannten domus ecclesiae, den Hauskirchen, die Gläubigen saßen dabei mit dem Priester auf einer halbkreisförmigen Bank direkt am Altartisch, Sigmatisch: Eine der ältesten Darstellungen des Abendmahls (Kirche S. Appolinare in Ravenna) wobei der Priester auf dem Ehrenplatz (am linken Ende vom Betrachter aus gesehen) saß und die Vorderseite frei blieb.
Diese
Hausgemeinschaften verschwinden erst in der Epoche der
'klassischen' Liturgie, nach der Erhebung des Christentums zur
Staatsreligion.
Diese urchristliche Praxis wurde sicher nicht überall zur gleichen
Zeit
aufgegeben.(4)
Spätestens seit der Konstantinischen Wende hat sich aber
wohl eine neue Gestalt von Kirchenbau und besonders des Altarraums
herausgebildet. Das Anwachsen der Gemeinden machte damals neue Wege
notwendig.
Eine frühe Beschreibung des neuen Typs bietet Eusebius von der 314
erbauten Kirche von Tyrus in Palästina. (5) Der Altar steht
hier
bereits in einem von kunstvollen Schranken umgebenen eigenen Altarraum,
"damit die Menge ihn nicht betrete".
In den konstantinischen Basiliken sitzen der Bischof und die Priester im Halbrund der Apsis. Die frühchristliche halbkreisförmige Sigmabank der Gläubigen ist nun zur Klerikerbank geworden, während sich die Gläubigen nach Geschlechtern getrennt in den Seitenschiffen aufhalten. In den kleineren Saalkirchen v.a. des 5/6. Jahrhunderts haben sie Sitzplätze auf Bänken entlang der Seitenwände, wie es heute noch vielfach in der Ostkirche üblich ist. Von da an sind in Ost und West die Altarräume regelmäßig durch Chorschranken, cancelli, vom Kirchenschiff abgegrenzt. Waren diese zunächst aus Holz, so werden sie später aus Stein gefertigt und mit meist 4-6 Säulen versehen, die einen Querbalken tragen. An diesen Querbalken sind Vorhänge befestigt, die während des eigentlichen Opfergebets zugezogen wurden.
Im Gegensatz zum christlichen Osten kennen wir im Westen nur wenige
Kirchenbauten, die die ursprüngliche Gestalt der Chorschranken bewahrt
haben: v.a. in S. Marco in Venedig, in Sta. Maria in Grado, im Dom von
Torcello und S. Giovanni in Argentella in Palombara (Tivoli). In vielen
älteren Kirchen finden sich jedoch Reste der ursprünglichen
Chorschranken, die oft in die Wände eingelassen sind. In den hölzernen
schwedischen Stabkirchen, die in späterer Zeit fast nicht verändert und
umgebaut wurden, lassen die Chorschranken noch deutlich ihre alte
Gestalt erkennen.
In kleineren Kirchen, in denen kein Platz für eigentliche
Chorschranken
war, wurde der Vorhang auch einfach an einem hölzernen Querbalken
aufgehängt, der in die Seitenwände eingelassen war, wie noch heute in
der kleinen Burgkapelle von Hocheppan sichtbar ist.
Zusätzlich war der Altar häufig mit einem Ziborium überdacht, an dem ebenfalls Vorhänge angebracht waren. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Altarbaldachin von S. Ambrogio in Mailand, an dem die Querstangen zur Befestigung der Vorhänge noch sichtbar sind.
Die Vorhänge bezeugt für den Westen das Sakramentar von Angouleme (um 800), wo es am Schluss der Kirchweihe heißt: "Danach werden die Altäre bekleidet und die vela templi aufgehängt. (6) Auch Durandus berichtet in seinem Rationale(7) von den beiden Vorhängen an den Chorschranken und am Altarbaldachin. Selbst als im Westen die frühchristlichen Vorhänge der cancelli bzw. des Ziboriumaltars ihren ursprünglichen Sinn verloren hatten, weil der Altar nicht mehr verhüllt wurde, erhielten sie sich noch vielfach als seitliche Vorhänge links und rechts des eigentlichen Altarbezirks bis weit in die Gotik hinein. Selbst im Barock sind sie nicht ganz verschwunden: gelegentlich finden sie sich noch als Zierde an den Eingängen zum hinter dem Altar liegenden Teil der Kirche.
Der christliche Osten kennt die Vorhänge bis heute. Im
byzantinischen
Ritus sind sie an den heiligen Türen der Ikonostase befestigt,
wo sie zu bestimmten Teilen des Gottesdienstes - und immer außerhalb
desselben zugezogen werden. Die armenische Kirche kennt einen großen
Vorhang, der während des Hochgebets vor dem Altarraum zugezogen wird.
Das alttestamentliche Vorbild ist dabei der Tempel zu Jerusalem, wo
ebenfalls ein Vorhang das Allerheiligste vom Heiligtum abtrennte.
Dieser Vorhang ist bekanntlich beim Tod Jesu zerrissen (vgl. Mt 27,51).
Der Tempelvorhang bewahrte das Allerheiligste mit der Bundeslade vor den Blicken aller, nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr das Allerheiligste betreten. Ähnliches gilt für die Vorhänge der christlichen Kirchen. Sie dienten ebenfalls dazu, den Altar und seinen Raum vor Profanation zu bewahren ("damit die Menge ihn nicht betrete"), und zur Wahrung des Mysteriums, das auf ihm gefeiert wurde. So entsprechen sie "einem in der Religionsgeschichte vielfach zu belegenden menschlichen Bedürfnis, Heiliges ehrfürchtig zu verhüllen.(8)
"Die Anfänge einer Kanonstille liegen im syrischen Osten, wo bereits im
5. Jh. die Sitte aufkam, den Priester den Einsetzungsbericht leise
sprechen zu lassen. (11) Im
lateinischen Westen vollzieht sich der
Übergang zum zunächst gedämpften und später dann leisen Vortrag des
Kanons ab dem 8. Jh. Während der erste römische Ordo noch nach dem
Sanctus sagt: "Quem dum expleverint, surgit pontifex solus et
intrat in canone" (Während sie es vollenden, erhebt sich der
Pontifex allein und tritt in den Kanon ein) (12), heißt es in der
ersten fränkischen Bearbeitung dieses Ordo in der Mitte des 8.
Jahrhunderts: "Et incipit canire dissimili voce et me/odia, ita ut
a circumstantibus altare tantum audiatur" (Und er beginnt mit
verhaltener Stimme und Melodie zu singen, so daß nur die den Altar
Umstehenden es hören).(13)
Es geht also zunächst um ein gedämpftes Sprechen oder Singen, so daß
er
von den direkt am Altar Stehenden noch gehört wird. Gesicherte
Nachrichten über ein stilles Beten des Kanons gibt es ab der Wende zum
9. Jahrhundert. So hat der Ordo secundum Romanos, eine
spätkarolingische Bearbeitung des Ordo Romanus I, den Satz geändert zu:
"surgit solus pontifex et tacito intrat in canonem" (erhebt
sich allein der Pontifex und tritt schweigend in den Kanon ein).(14)
Bei dieser Praxis sollte es dann bleiben, "womit nicht gesagt ist,
daß
man das Stillbeten schon vor Pius V. überall im Sinne völlig unhörbaren
Sprechens verstanden hat.(15) So mahnen auch
später noch vereinzelt
Synoden zu einem deutlichen und bestimmten(16) Vortrag des
Kanon an.
Der Ordo des Kardinals Stefaneschi fordert um 1311, der Priester müssen
den Kanon "mit verhaltener Stimme" (submissa voce) sprechen
wie das gemeinsame Sanctus mit Diakon und Subdiakon.(17) So wird auch
heute noch in der außerordentlichen Form die Weihe des Krankenöls am
Ende des Kanons "voce demissa" vollzogen. Das Tridentinum
spricht bei der Verteidigung der Kanonstille noch von einer "submissa
VOX".(18)
Endgültige Vorschrift wurde der "leise" (secreto)
zu vollziehende Vortrag des Kanons erst mit dem Missale Romanum Pius V.
In der Praxis hat sich die Kanonstille jedoch nicht für den ganzen
Canon Missae durchhalten können. "Im Mittelalter waren
Elevationsgesänge und laut gesprochene Anbetungsgebete im Umkreis der
Konsekration weit verbreitet. In der Neuzeit erklang vielfach nach der
Erhebung von Hostie und Kelch das muttersprachliche
Nachwandlungslied".(19) Im
gesungenen Amt sang die Gemeinde das
Sanctus, während der Priester nach seinem gebeteten Sanctus mit dem
Kanon begann, wie es auch das obige Zitat aus dem ersten römischen Ordo
schon sagte. Später wurden dann Sanctus und Benedictus getrennt
gesungen, v.a. in polyphonen Meßkompositionen, dann aber auch in der
Gregorianik, das Sanctus vor der Wandlung, das Benedictus nach der
Wandlung. Seit der Aufklärung wurden vielfach volkssprachliche
Kirchenlieder während der ganzen stillen Messe gesungen, die sich mehr
oder weniger gut an die liturgischen Texte anlehnten (vgl.
Schubert-Messe), auch während des Kanons mit Ausnahme der Wandlung.
Noch unsäglicher waren die sogenannten Betsingmessen, in denen die
liturgischen Gesänge durch Lieder ersetzt wurden, während der Priester
die offiziellen Texte am Altar leise lesen mußte. Dazwischen wurden im
Wechsel zwischen Vorbeter und Gemeinde volkssprachliche Gebete "Zum
Kirchengebet", "Zum Graduale" usw. gesprochen. Während des Kanons
selbst wurden Gebete "Vor der heiligen Wandlung" und "Nach der heiligen
Wandlung" mitsamt dem landessprachlichen Vaterunser gebetet. Die
Kanonstille war dabei völlig zur Wandlungsstille geworden. Diese deutsche
Unsitte blieb bis zum Zweiten Vatikanum an den meisten Orten
in Gebrauch. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird (wieder) das ganze
Sanctus-Benedictus nach der Präfation während des ersten Teils des
Kanons vor der Wandlung gesungen. Danach sollte dann Stille herrschen.
"Während in der römischen Liturgie das Mysterium tremendum, das sich während des Kanons vollzieht, ungefähr seit der Jahrtausendwende durch die Kanonstille gewahrt und geschützt bleibt, geht der Osten hierbei andere Wege. Während des gesamten Hochgebets sind die Türen der Ikonostase verschlossen, ebenso wie der Vorhang an den Türen. Das heilige Geschehen bleibt den Augen der Gläubigen verborgen. Dafür werden die entscheidenden Passagen des Hochgebets feierlich gesungen: die Einsetzungsworte, auf die die Gläubigen jeweils mit Amen antworten, die Darbringung, sowie bestimmte Teile der Fürbitten. Während der übrigen still vom Priester gebeteten Teile singen Chor und Volk verschiedene Antiphonen."(20)
Begründungen für die Kanonstille aus der Zeit ihrer Entstehung sind
uns
keine bekannt. Erst später macht man sich Gedanken über ihren Sinn. Es
gab ganz verschiedene Begründungen. So schreibt A. Heinz: "Die ...
Kanonstille wurde von den mittelalterlichen Liturgikern(21) aus dem
priesterlichen Charakter des Kanons und aus der Heiligen Schrift (z. B.
Mt 6,6; 14,23) begründet"(22). Als
wichtiger äußerer Grund wird auch
die Ermüdung des Priesters und des Volkes genannt, das die lateinische
Sprache nicht mehr versteht, und durch den mit dem Sanctus erweiterten
Umfang des Kanons.(23)
Das scheinen späte etwas unbeholfene Versuche zu sein, etwas zu
begründen, was man sich nicht mehr genau erklären konnte. Treffender
und richtiger sind wohl Hinweise auf den Schutz vor Profanation. So
schreibt Pseudo-Alkuin, die Kanonstille sei dazu da, "damit so heilige
und zu einem so großen Mysterium gehörende Worte nicht verächtlich
gemacht werden, wenn fast alle sie durch den Gebrauch auswendig
behalten und sie auf Plätzen und Straßen und an anderen Orten, wo es
sich nicht gehört, singen"(24). Er führt dann
eine verbreitete
mittelalterliche Legende an, nach der einst Hirten auf dem Feld den
Meßkanon gesungen hätten und deshalb von Gott mit dem Tod bestraft
worden seien. Diese Legende geht auf Johannes Moschus (+ 619) zurück,
der sie wohl als erster aufgezeichnet hat. Da werden die Hirtenknaben
für ihren Frevel vom Blitz erschlagen.(25)
Auch nach
Remigius von
Auxerre können nur durch die Kanonstille die heiligen Worte vor
Verunehrung geschützt und der Strafe Gottes vorgebeugt werden(26).
Auffällig ist der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Wegfall der
Altarvorhänge und dem Aufkommen der Kanonstille. Auch wenn wir keinen
direkten schriftlichen Hinweis auf einen inneren Zusammenhang haben,
ist doch der zeitliche vielsagend. So erwähnt auch V. Thalhofer im
Zusammenhang mit der Kanonstille die alten Altarvorhänge, wenn auch in
ihrer späteren rudimentären Form: "Zur Mahnung für den Priester, daß er
während des Kanons so recht im Allerheiligsten des Neuen Bundes stehe,
wurden früher in manchen Kirchen beim Beginn des Kanons rechts und
links vom Altar Vorhänge vorgezogen"(27). Auch wenn
Thalhofer nicht
mehr den ursprünglichen Sinn der Altarvorhänge und ihre Verwendung
kannte, scheint er doch einen inneren Zusammenhang geahnt zu haben.
Sowohl die frühere Verhüllung der Altäre zur Zeit des Kanons als auch
die spätere Kanonstille dienten beide in erster Linie zum Schutz des
Allerheiligsten im doppelten Sinn: zum Schutz des Altars und der
Eucharistie, die auf ihm gefeiert wurde.
Als in der Westkirche die Altarvorhänge außer Übung kamen, mußte nun auf andere Weise das Mysterium gewahrt und der Altar vor Profanation geschützt werden. Man ging dementsprechend dazu über, das Herzstück der Messe, den Kanon, zunächst verhalten und dann ganz leise zu sprechen. Welcher dieser beiden Vorgänge den anderen verursacht hat, ob also die Kanonstille die Folge der Nichtweiterverwendung der Vorhänge war oder umgekehrt, ist heute nicht mehr festzustellen.
Eine erste Lockerung der Vorschrift, den Kanon still zu beten, gab
es
in einer Instruktion der Ritenkongregation vom 3.9.1958, die für
Rundfunkübertagungen eine "vox tantisper elevata" empfahl,
also eine leicht erhobene Sprache (28).
Das erste Dokument des Zweiten
Vatikanischen Konzils (1962-1964) war die Konstitution über die heilige
Liturgie Sacrosanctum Concilium. Die Konzilsväter nahmen darin den
Gedanken des heiligen Pius' X. auf, "der in der aktiven Teilnahme der
Gläubigen an der Liturgie, die erste und unerlässliche Quelle echten
christlichen Geistes' (Motuproprio "Tra le sollecitudini" 22.11.1912)
und somit der inneren Erneuerung der Kirche sah"(29).
So wird in der Konstitution als eines der grundlegenden Prinzipien
der
Liturgie die "volle, bewußte und tätige Teilnahme (actuosa
participatio) an den liturgischen Feiern" (SC 14) genannt. A. Bugnini
macht diese Aussage sogar zum "Schlüssel der Liturgiereform": "Die
Teilnahme des Gottesvolkes an der liturgischen Feier und seine aktive
Hineinnahme sind letzter Zweck der Reform"(30). Mit Recht wird
darauf
hingewiesen, daß actuosus (lebhaft) nicht gleichbedeutend mit activus
(tätig) ist. Eine lebhafte innere Teilnahme verlangt nicht notwendig
nach äußerer Aktivität, sie kann auch im Schweigen bestehen. So ging
die Liturgiekonstitution wie selbstverständlich vom Fortbestand der
Kanonstille aus: "Die Empfehlung, das heilige Schweigen zu seiner Zeit
einzuhalten, wie es die Instruktion der Ritenkongregation vom 3.
September 1958, Nr. 25e und f für die Zeit der Wandlung fordert und
nachher bis zum Pater noster empfiehlt ... , wurde auf Wunsch eines
Konzilsvaters von der Liturgiekommission dem Entwurf hinzugefügt"(31)
"Zumindest sollte die Wandlung still vollzogen werden und nach
Möglichkeit bis zum Pater noster heiliges Schweigen die Herzmitte der
heiligen Messe umgeben, so wie die Konzilsväter es vom 1962er Missale
her kannten."(32)
Hielt das Konzil also noch prinzipiell an der Kanonstille fest, so
sollte sich das bald ändern. Der neugeschaffene Ritus der
Konzelebration sah bereits den Vortrag des Kanons "elata voce" (mit
erhobener Stimme) oder "cantu" (gesungen) vor (Nr. 37-40). Noch weiter
ging die Instruktion Tres abhinc annos zur Durchführung der
Liturgiekonstitution vom 4. Mai 1967. "Zwar sieht sie noch die
Kanonstille als die normale Form vor, doch erlaubt sie dem Priester in
Messen mit dem Volk pro opportunitate (gegebenenfalls) das
Eucharistische Gebet laut (intelligibili voce) zu sprechen.
Die wenige Wochen danach erschienene Instruktion Eucharisticum
mysterium vom 25. Mail 1967 wiederholt diese Möglichkeit. Erst der Ordo
Missae Pauls VI., der von ihm am 3. April mit der Apostolischen
Konstitution Missale Romanum approbiert worden ist und vom 30. November
1969 an in der Katholischen Kirche des Lateinischen Ritus Geltung hat,
sieht die Kanonstille nicht mehr vor. Wie die anderen Präsidialgebete
(Collecta, Oratio super oblata, Oratio post communionem) soll auch das
Eucharistische Hochgebet laut und deutlich (clara et elata voce)
gesprochen und von den Gläubigen gehört werden (auscultentur)."(33).
Das war das vorläufige Ende einer mehr als tausendjährigen Übung der
römischen Kirche, die die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils
keineswegs abschaffen wollten, wie wir oben sahen.
Vorläufig nennen wir das Ende, weil seit dem Motu Proprio Summorum Pontificum der römische Ritus in zwei Ausdrucksformen besteht, der ordentlichen nach dem Meßbuch Pauls VI. von 1969 und der außerordentlichen nach dem Meßbuch des seligen Papstes Johannes XXIII. von 1962, das weiterhin die Kanonstille kennt. Da nach Aussage Papst Benedikts XVI. die beiden Formen sich gegenseitig bereichern sollen,(34) ist die Zukunft der Kanonstille wieder offen.
In der nachkonziliaren Praxis ist die Euphorie darüber, daß der
Kanon
durch den lauten Vortrag "seine ursprüngliche Funktion als öffentliches
Hochgebet des Volkes vor Gott" wiedererlangt hat, inzwischen längst
verflogen. Deutsche Liturgiewissenschaftler beklagen vielmehr: "Der
volkssprachliche, laute Vollzug der bestehenden Hochgebete ist für die
Teilnehmer ermüdend und läßt gerade den Höhepunkt der gesamten Feier zu
einem emotionalen Tiefpunkt werden"(35).
Der jetzige Papst Benedikt XVI. nahm das in "Vom Geist der Liturgie"
zum Anlaß über die Möglichkeit einer Kanonstille auch in der
ordentlichen Form der Messe nachzudenken: "Inzwischen haben die
deutschen Liturgiker bei ihren Bemühungen für eine Reform des Missale
selbst ausdrücklich bekundet, daß ausgerechnet der Höhepunkt der
Eucharistiefeier, das Hochgebet, zu ihrem eigentlichen Krisenpunkt
geworden ist. Man hatte dem seit der Reform zunächst durch die
Erfindung fortwährend neuer Hochgebete zu begegnen gesucht und ist
damit immer noch weiter ins Banale abgesunken. Die
Vermehrung der Wörter hilft nicht, das ist inzwischen allzu
offenkundig. Die Liturgiker schlagen nun mancherlei Hilfen vor, die
durchaus Bedenkenswertes enthalten. Aber soweit ich sehen kann, sperren
sie sich nach wie vor gegenüber der Möglichkeit, daß auch Stille,
gerade Stille Gemeinschaft vor Gott bilden kann. Es ist doch kein
Zufall, daß man in Jerusalem schon sehr früh Teile des Kanons still
gebetet hat und daß im Westen die Kanonstille - zum Teil überlagert von
meditativem Gesang - zur Norm geworden war. Wer dies alles nur als
Folge von Mißverständnissen abtut, macht es sich zu leicht. Es ist gar
nicht wahr, daß der vollständige, ununterbrochene laute Vortrag des
Hochgebetes die Bedingung für die Beteiligung aller an diesem zentralen
Akt der Eucharistiefeier sei. Mein Vorschlag von damals (1978, Anm. d.
Verf.) war: Zum einen muß liturgische Bildung erreichen, daß die
Gläubigen die wesentliche Bedeutung und die Grundrichtung des Kanons
kennen. Zum anderen sollten etwa die ersten Worte der einzelnen Gebete
gleichsam als Stichwort für die versammelte Gemeinde laut gesprochen
werden, so daß dann das stille Gebet jedes Einzelnen die Intonation
aufnehmen und das Persönliche ins Gemeinsame, das Gemeinsame ins
Persönliche hineintragen kann"(36).
Der damalige Kardinal Ratzinger gibt eine Reihe von Gründen an, die
für
ein heiliges Schweigen in der Liturgie und für die Kanonstille im
besonderen sprechen. Mit dem Argument, das Schweigen lasse besonders
deutlich den Geheimnischarakter der Liturgie erfahren, knüpft er an das
alte Argument von der Wahrung des Mysteriums an: "Immer deutlicher
werden wir inne, dass zur Liturgie auch das Schweigen gehört. Dem
redenden Gott antworten wir singend und betend, aber das größere
Geheimnis, das über alle Worte hinausgeht, ruft uns auch ins Schweigen.
Freilich, es muss ein gefülltes Schweigen sein, mehr als Abwesenheit
von Rede und Aktion. Von der Liturgie erwarten wir uns gerade dies,
dass sie uns die positive Stille gibt, in der wir zu uns selber finden
- die Stille, die nicht bloß Pause ist, in der uns tausend Gedanken und
Wünsche überfallen, sondern Einkehr, die uns von innen her Frieden
gibt, uns aufatmen lässt, das verschüttete Eigentliche aufdeckt."(37)
Ähnlich argumentiert M. Gaudron, wenn er sagt, Kanonstille und
lateinische Liturgiesprache seien "ein Ausdruck der Unbegreiflichkeit
und Unaussprechlichkeit der Geheimnisse, die sich hier vollziehen. '"
Die Stille disponiert außerdem zur Sammlung und zur Anbetung. So
wichtig das gemeinsame Gebet ist, so ist es doch sehr angemessen, daß
es im Meßritus auch die Gelegenheit gibt, ehrfürchtig und schweigend
vor dem Geheimnis Gottes niederzufallen."(38) Weiter betont
letzerer,
dass die Kanonstille wichtig ist für ein rechtes Verständnis vom
Priestertum und das Verhältnis vom allgemeinen Priestertum der
Gläubigen zum sakramentalen Priestertum: "Der Priester alleine
verwandelt Brot und Wein und setzt damit das Kreuzopfer gegenwärtig,
das Volk trägt dazu nichts bei. Darum verläßt der Priester durch die
Stille gewissermaßen das Volk, um in das Allerheiligste einzutreten.
Damit gleicht er Christus, der sein Opfer auf Golgatha allein
darbrachte: ,Die Kelter trat ich allein' (ls 63, 3). Das Volk soll sich
zwar dem Opfer des Priesters anschließen und sowohl Christus als auch
sich selbst dem ewigen Vater aufopfern, aber an der Gegenwärtigsetzung
des Kreuzesopfers hat es keinen Anteil."(39)
Seit dem Konzil wird vielfach der Gemeinschaftscharakter der Liturgie betont, der angeblich erst in der ordentlichen Form des römischen Ritus erfahrbar sei. Doch auch unter diesem Aspekt kann gerade die Kanonstille hilfreich sein. "Wenn die wahrhaftige Gemeinschaft, jene Form, welche ihr zutiefst zu eigen ist und welche ihr angemessen ist, jene der betenden Zuwendung zu Gott ist, muß man auch beachten, was dieser förderlich und was abkömmlich ist. Denn nicht zuletzt hängt diese auch von äußerlichen Rahmenbedingungen ab. Hierfür scheint mir die Kanonstille geradezu eine Voraussetzung zu sein. Wenn der gesamte Kanon jedes Mal laut durch den Priester rezitiert wird, wird das persönliche Gebet, das eigene ln-Kontakt-Treten mit Gott in seinem Keim erstickt. Man hört mehr oder minder aufmerksam zu, aber man betet nicht wirklich. Gerade wenn die Messe laut rezitiert wird, verkommt der Anteil des Einzelnen zu einem reinen ,Hören der Messe'. Dies war oft eine schwere Anklage gegen die ,alte' Messe: man "tut" nichts, man nimmt nicht wirklich (Anteil), man hört sie ja nur. Doch trifft dieser Vorwurf viel eher auf eine laut rezitierte Messe zu, weil sie den Einzelnen ja gar nicht erst aktiv in das betende Geschehen eindringen läßt. Daß es äußerlich still ist, bedeutet nicht, daß die Gläubigen nichts tun, ist aber eine Voraussetzung dafür das Rechte überhaupt tun zu können."(40)
Seit nach der Konstantinischen Wende die Kirche nicht mehr verfolgt
wurde und deshalb nicht länger eine Gemeinschaft von "Idealisten" war,
verspürte man die Notwendigkeit, den Altar und seinen Raum vor
Profanation zu schützen und so das Mysterium zu wahren. Zu diesem Zweck
wurde zunächst (auch schon vor Konstantin) der Altarraum mit Schranken
vom übrigen Kirchenschiff abgetrennt, "damit die Menge ihn nicht
betrete". Dann wurden vor dem Altarraum und am eventuellen
Altarbaldachin Vorhänge angebracht, die v.a. während des Hochgebets
vorgezogen wurden. "Dieses Anliegen (Heiliges ehrfürchtig zu verhüllen)
hat sich im Christentum nicht nur gegenüber Ungläubigen und den noch
nicht voll Eingegliederten in der Ausbildung der Arkandisziplin
ausgewirkt, sondern auch gegenüber den Gläubigen, insofern das
Herzstück der Eucharistiefeier mehr und mehr zu einer ehrfürchtig
verhüllten, dem einfachen Gläubigen nicht mehr zugänglichen Kultfeier
umgestaltet wurde."(41)
Man erachtete diese Entwicklung damals als notwendig, nachdem die
damalige bekannte Welt mehr und mehr christlich wurde und somit auch
mehr "Laue" zur Gemeinde gehörten. Als im Westen die Altarvorhänge
außer Übung kamen, ging man dazu über, das Herzstück der Messe, den
Kanon mit der Wandlung der Gaben, zunächst verhalten und dann ganz
leise zu sprechen.
So wollte man ihn vor Profanation schützen und seinen
Mysteriencharakter wahren. Jeder Gefahr einer Banalisierung sollte so
vorgebeugt werden, damit das Hochgebet der Messe nicht zum ihrem
"eigentlichen Krisenpunkt" werden könnte. Welcher dieser beiden
Vorgänge den anderen verursacht hat, ob also die Kanonstille die Folge
der Nichtweiterverwendung der Vorhänge war oder umgekehrt, ist heute
nicht mehr festzustellen.
Als nach mehr als einem Jahrtausend die Kanonstille bei der
Liturgiereform im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils abgeschafft
wurde, ergab sich, daß der laut gebetete Kanon zu einem "emotionalen
Tiefpunkt" der Messe wurde. Vor allem der spätere Papst Benedikt XVI.,
aber auch andere Theologen nahmen sich dieses Problems an und dachten
neu über die Bedeutung des heiligen Schweigens und die Kanonstille
nach. Neben der alten, nunmehr leicht variierten Begründung zur Wahrung
des Mysteriencharakters des Hochgebets der Messe erkennt man auch ihre
Bedeutung für ein rechts Verständnis des Priestertums der Kirche, aber
auch als Ausdruck des Gemeinschaftscharakters der heiligen Liturgie.
Seit Summorum Pontificum hat die Kanonstille wieder ihren legitimen Platz im römischen Ritus. Ob die vom Papst gewünschte gegenseitige Befruchtung der beiden Formen des einen römischen Ritus ihr auch in der ordentlichen Form einen Platz geben wird, wird die Zukunft zeigen. Lassen wir zum Schluß noch einmal dem heutigen Papst Benedikt XVI. das Wort über den still gebeteten Kanon als "geisterfülltes Beten", in dem die ganze betende Gemeinde vereint ist: "Wer je eine im stillen Kanongebet geeinte Kirche erlebt hat, der hat erfahren, was wirklich gefülltes Schweigen ist, das zugleich ein lautes und eindringliches Rufen zu Gott, ein geisterfülltes Beten darstellt. Hier beten wirklich alle gemeinsam den Kanon, wenn auch in der Bindung an den besonderen Auftrag des priesterlichen Dienstes. Hier sind alle geeint, von Christus ergriffen, vom heiligen Geist hineingeführt ins gemeinsame Gebet vor dem Vater, das das wahre Opfer ist - die Gott und Welt versöhnende und einende Liebe."(42)
letzte Aktualisierung: 07.06.2011 |